Herbert Spindler empfindet sein rechtes Bein nicht als sein eigenes. Von den Ärzten im Stich gelassen, nimmt er die Amputation in Heimwerkermanier vor. Aber die Dinge entwickeln ein unerwartetes Eigenleben…
Eine makabre Kurzgeschichte zum Thema Body-Horror, ca. 3700 Wörter, 0,99 €, zu finden hier
Bevor Frau Doktor Bergmann den Mund aufmachte, hatte ihr mitleidig-skeptischer Blick das Fazit schon vorweg genommen: Sie würde Herbert Spindler das Bein nicht amputieren.
„Sehen Sie, Herr Spindler, ich bin Chirurgin und kann in Ihrem Fall keine verbindliche Diagnose stellen, aber ich vermute, bei Ihnen treffen zwei Krankheiten ganz unglücklich zusammen: Zum Einen die sogenannte BIID, Body Integritiy Identity Disorder, wie es in der Sprache der Medizin heißt – das ist das Gefühl, dass ein Körperteil nicht vorhanden sein sollte. Zum Anderen das Restless Leg Syndrome, der Drang, das Bein ständig zu bewegen.“
Herbert Spindler verspürte den Drang, Frau Doktor Bergmann mit dem Restless Fist Syndrome bekannt zu machen. Er hatte diese Diagnose so oder ähnlich schon von vierzehn anderen Ärzten gehört und war es leid, als psychisch kranker Halbdepp an Irrenärzte verwiesen zu werden. Das löste sein Problem nicht.
„Andere BIID-Kranke wollen sich von einem Körperteil befreien, weil er nicht zu dem geistigen Bild passt, das sie von Ihrem Körper haben. Aber bei Ihnen sorgt das Restless Leg dafür, dass sie Ihr Bein als fremd empfinden.“
„Als Bein eines Fremden, um es präzise zu formulieren. Wenn ich tatsächlich spinne,“ – Frau Doktor Bergmann machte beschwichtigende Gesten, um Vertrauen in Herbert Spindlers geistige Gesundheit vorzutäuschen – „… wie erklären Sie sich dann die Unterschiede im Aussehen meiner Beine? Das linke ist behaart, das rechte nur sehr wenig. Links: Muskeln, Sehnen. Rechts: Weiches Fleisch. Manche Frau wäre froh, so ein schönes Bein zu haben. Oder besser: Zwei davon.“
Sarkasmus, die letzte Zuflucht des Gescheiterten, dachte Herbert Spindler, denn er wusste, dass Frau Doktor Bergmann alle Argumente weg-erklären würde, die er auf den Tisch brachte.
„Was es mit der Behaarung auf sich hat, kann ich nicht sagen…“
„Ihre Kunstpause sagt es um so deutlicher: Sie vermuten, dass ich das selber mit Rasierer oder Wachs mache, und dass ich es vielleicht nicht einmal weiß!‘
„… aber die unterschiedliche Muskelausbildung resultiert wahrscheinlich aus der unterschiedlichen Beanspruchung: Sie haben kein Vertrauen in Ihr rechtes Bein, deshalb belasten Sie es auch nicht. Das linke dafür um so mehr.“
Herbert Spindler fragte sich, ob er noch weiter diskutieren sollte, aber Frau Doktor Bergmanns Ignoranz würde ihn nur wütend machen. Die Wut würde ihm kurzfristig Auftrieb geben, er würde sich im Recht fühlen, unverstanden, trotzig gegen eine feindliche Welt rebellieren. Aber was nützte das schon? Frau Doktor Bergmanns Haltung war aus Ihrer Sicht verständlich, vielleicht würde er in Ihrer Position genauso handeln.
Er hatte in den vergangenen Wochen nicht alle Ärzte in Deutschland befragt, aber mit Frau Doktor Bergmann waren es jetzt fünfzehn, die seinen Wunsch nach einer Amputation kategorisch abgelehnt hatten. Eine ausreichend große Stichprobe für die Annahme, dass er hierzulande niemanden Qualifizierten finden würde, der ihn auf medizinisch unbedenkliche Weise von dem Bein befreien würde. Westeuropa fiel wahrscheinlich komplett flach. In Schottland hatte ein Arzt vor etlichen Jahren zwei armen Schweinen geholfen, die an BIID litten und ihnen irgendwelche Gliedmaßen amputiert. Aber nachdem das bekannt worden war, schwappte eine Welle der Entrüstung durch die Welt der Weißkittel und man ließ die Leute lieber komplett. Unglücklich, aber der Norm nach vollständig.
Osteuropa? Dort würde er vielleicht jemanden finden. Aber ob der medizinische Standard seinen Ansprüchen genügen würde? Das Bild eines glasbausteinbebrillten Pferdemetzgers mit Benzin-Kettensäge blitzte durch Herbert Spindlers Kopf, er sah sich in einer schimmeligen ehemaligen Folterkammer des KGB auf einen angeblich aus Edelstahl gefertigtem, tatsächlich aber arg rostigen Tisch geschnallt; eine vollbusige Brünette in knallenger Krankenschwesternuniform – lange Beine in kurzem Rock, Schmollmund mit blutrotem Lippenstift auf den Mundschutz geschminkt – entleert eine Halbliterspritze grau-grün-violetten Blubberschleim in seinen Arm, streicht ihm über den Kopf und lallt mit Wodkafahne in sein Gesicht: ‚Wenn Du wieder aufwachst, bist Du das böse Bein los, mein armer Kleiner! Oder besser: Falls Du wieder aufwachst!‘ Krankenschlampe und Pferdemetzger lachen hysterisch, die Säge heult auf und Frau Doktor Bergmann sagt:
„Geht es Ihnen nicht gut, Herr Spindler?“
„Doch, ja. Es geht mir gut. Schade, dass Sie mir nicht helfen konnten. Ich gehe dann jetzt mal. Vielen Dank für Ihre Mühe.“*
Zweiundzwanzig Tage später war ich bestens vorbereitet, das Bein selber in die Hand zu nehmen.
…